Konstruktivistische Didaktik

„Wissen ist kein Stoff, der vermittelt wird, sondern eine kognitive Leistung der Person.“

In einem Vorlesungsskript des Instituts für Didaktik der Geographie (!) fand ich folgendes, sowohl für AusbilderInnen als auch für Medi-Trainees beachtenswerte

„Konstruktivistisch-didaktisches Vorwort“

Lernende Erwachsene sind relativ autopoietische Systeme. Erwachsene sind lernfähig, aber unbelehrbar. Dennoch wünschen sie eine Unterstützung ihrer Lernbemühungen durch fachlich und methodisch kompetente und verständnisvolle Lehrkräfte. Dies ist das weitgehend akzeptierte Selbstverständnis der Erwachsenenbildung.

In der Praxis ist jedoch vielfach ein „heimlicher Lehrplan“ wirksam, in dem die „Mythen“ des Repräsentationsmodells und der linearen Vermittlungsdidaktik sich durchsetzen. (Doch auch hier nötigt der Konstruktivismus zu einer selbstreflexiven Rückfrage: Wenn sich jahrzehntelang stoff- und dozentenorientierte Organisationsformen behauptet haben und von den Teilnehmenden immer wieder favorisiert wurden, kann ihnen eine „Zweckmäßigkeit“, eine „Passung“ von Lehr- und Lernbedürfnissen kaum bestritten werden. Ob neue, kreative, selbstorganisierte Lernmethoden tatsächlich effektiver sind, ist empirisch bisher kaum belegt worden.)

Themenformulierungen und Veranstaltungsankündigungen lösen bei Interessenten oft sehr unterschiedliche Assoziationen und Reaktionen aus und werden oft völlig anders wahrgenommen als von den Autoren beabsichtigt. Selbstverständlich ist es legitim und sinnvoll, durch die Sprache der Programme eine Selektion der Adressaten zu steuern, aber nur selten wird vorher getestet, welche Wirkung bestimmte Formulierungen auf unterschiedliche Zielgruppen haben. So kann der gutgemeinte Hinweis, der Seminarablauf solle mit den Teilnehmenden gemeinsam vereinbart werden, auf einige Interessenten wie eine Drohung wirken.
Die moderne, professionelle Didaktik ist technologisch und ähnelt der industriellen Produktion. Lern- und Bildungsprozesse Erwachsener werden geplant, organisiert, kontrolliert. Beliebte Begriffe sind Bildungsmanagement und Controlling. Es ist jedoch vermessen, operationalisierte Lernziele für andere, fremde Menschen, für ganze
Gruppen verbindlich festzulegen und zu testen. Was legitimiert Pädagog/innen zu bestimmen, was mündige Erwachsene lernen zu wollen haben? Auch ist mehr als zweifelhaft, ob die meisten Teilnehmer/innen in Sprachkursen primär eine fremde Sprache lernen wollen. Professionelles pädagogisches Personal wird dafür bezahlt, daß es Bildungsveranstaltungen sorgfältig und kompetent vorbereitet, daß die Lehrenden sich selber gewissenhaft vorbereiten. Doch nicht der Lernprozeß der Teilnehmenden kann geplant werden, sondern das Lehrangebot. Die gesamte pädagogische Situation sollte so vielfältig und anregend gestaltet sein, daß die Teilnehmenden je nach der individuellen Lage wichtige und aufschlußreiche Lernerfahrungen machen können. Dies bezeichnet Rolf Arnold als ,,evolutionäre Gelassenheit“: Der Lehrer „schafft somit die Bedingungen für die Selbstorganisation der Lernenden. Mit anderen Worten ,erzeugt‘ der Lehrer nicht mehr das Wissen, das in die Köpfe der Schüler soll, er ,ermöglicht‘ Prozesse der selbsttätigen und selbständigen Wissenserschließung und
Wissensaneignung.“ (ARNOLD, zit. nach SIEBERT 1994, S. 79).

Es ist eine unbewiesene Annahme, daß Teilnehmende vor allem das lernen wollen, was im Programm angekündigt ist, ja, daß die Mehrzahl überhaupt lernen will. Wenn Lernen Veränderung bedeutet, wollen viele lieber bestätigt als verunsichert werden, und viele Teilnehmende suchen ein Forum für ihre Botschaften, sie suchen Zuhörer, denen sie mitteilen können, was sie wissen oder für richtig halten. Dies mag für die Gruppe und die Kursleiter manchmal lästig sein, aber letztlich unterscheiden sich diese Teilnehmer/innen in ihrer Motivation kaum von den meisten Lehrkräften. Lehren und Lernen vermischt sich also und läßt sich nicht arbeitsteilig bezahlenden Teilnehmern und bezahlten Kursleitern zuordnen, und das ist vielleicht auch gut so. Insgeheim wünschen die meisten Lehrenden, daß am Schluß des Seminars nicht nur alle Teilnehmer/innen voll zufrieden sind, sondern sich auch einschränkungslos ihrer Meinung anschließen. Daß dieser Wunsch illusionär ist, ist emotional schwer zu akzeptieren, aber konstruktivistisch gesehen wäre ein solcher übereilter Konsens auch
unerwünscht. Da Erwachsene aufgrund individueller Biographien und Lebenslagen unterschiedliche Bewertungen vornehmen, da gerade die Differenzen und nicht unbedingt die Einverständnisse den Horizont erweitern, ist die Pluralität und nicht die Vereinheitlichung aller Ansichten ein „Gütezeichen“ für Bildungsveranstaltungen. Wenn alle Beteiligten sich die Konstruktion des Dozenten aneignen, ist dies eher ein Anzeichen für ein Denkverzicht.

Wissen ist kein Stoff, der vermittelt wird, sondern eine kognitive Leistung der Person.

SIEBERT, H. (1994): Lernen als Konstruktion von Lebenswelten. Entwurf einer konstruktivistischen Didaktik. Frankfurt / Main
SIEBERT, H. (1997): Über die Nutzlosigkeit von Belehrungen und Bekehrungen. Beiträge zur konstruktivistischer Pädagogik. Bönen.
TERHART, E. (2002): Konstruktivismus und Unterricht.-2.Aufl. Bönen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert