Kontext-Illusionen

Wer nicht glauben kann, dass die beiden Kreise tatsächlich farblich absolut identisch sind, kann sich das Bild 2x ausdrucken, einen der Kreise ausschneiden und auf das andere Bild legen. Und sich wundern.

Ob etwas hell oder dunkel erscheint, hängt natürlich mit dem Kontext zusammen.
Ob etwas groß oder klein ist, hängt auch vom Kontext ab.

Aber wie ist es mit der Kontextabhängigkeit in sozialen Situationen?

Z.B. ob jemand „zu laut“ ist oder „unhöflich“. Oder ob jemand pünktlich ist. Ja, die Pünktlichkeit: Im Wilden Westen kam die Postkutsche 1x pro Woche. Wenn sie für donnerstags angekündigt war und die Kutsche am Donnerstag kam, war man zufrieden. Bei der Deutschen Bahn gilt ein Zug als pünktlich, wenn er weniger als 6 Minuten Verspätung hat. In Tokio hingegen entschuldigt sich das Bahnunternehmen für Verspätungen ab 30 Sekunden.

Oder die Lautstärke: Wir hatten in einer Mediationsausbildung vor einigen Jahren eine Teilnehmerin aus Caracas, Venezuela. Sie sprach und verstand sehr gut Deutsch, aber als es bei einem Rollenspiel einmal um nächtliche Ruhestörung ging, musste sie nachfragen: „Nächtliche Ruhestörung? Was ist damit gemeint?“ Sie verstand den Begriff überhaupt nicht. Noch weniger, warum so etwas einen Konflikt auslösen könnte.

Wenn wir unser Verständnis für die grundsätzliche Kontextabhängigkeit unserer Wahrnehmung und unserer Wirklichkeitskonstruktionen erhöhen, hat dies in der Mediation (mindestens) zwei Vorteile:

1.) Wir erlösen die Klienten von der Notwendigkeit, „Beweise“ für ein vermeintlich objektiv nachvollziehbares Erleben liefern zu müssen. Dass sie subjektiv dieses Erleben haben, reicht aus. Und sie müssen nicht mehr darum feilschen und kämpfen, wer jetzt Recht hat, sondern verschiedenes Erleben kann gleichberechtigt nebeneinander stehen.

2. Da wir wissen, dass Kontexte einen Unterschied machen, können wir dort nach Lösungen suchen. Wir können Kontexte verändern und das Erleben der Parteien ändert sich.

Zum 2. Punkt ein Beispiel aus meiner Praxis: Ein Team tat sich schwer mit der neuen Abteilungsleiterin, u.a. wurde ihr vorgeworfen, zu viele Anweisungen zu geben und immer wieder „die Chefin rauszukehren“. Eine „direkte“ Lösung hätte sein können, dass sie nicht mehr so viele Anweisungen gibt. Die Lösung, die jedoch erfolgreich umgesetzt wurde, war, für die Anweisungen einen anderen Rahmen zu schaffen: Große Aufgaben wurde in der wöchentlichen Teamsitzung verteilt, bei kleinen Aufgaben zwischendurch wurde nicht einfach die Anweisung erteilt, sondern 2 Minuten Smalltalk gemacht und dann gefragt(!) ob es möglich wäre, bis heute Abend noch folgende Sache zu erledigen. Im Nachgespräch waren sich beide Seiten einig, dass die anfangs beklagte hohe Anzahl der Anweisungen gar nicht vermindert wurde, nun aber kein Problem mehr darstellte. Es hatte gereichte, die Rahmenbedingungen zu verändern, in welcher Art die Anweisungen gegeben wurden.

Die beiden Bilder – die Kreise und das mit dem Brecht-Zitat – habe ich in Postkartengröße in meinen Mediationsunterlagen. Ich benutze diese Karten manchmal in der Einleitungsphase der Mediation, um den Parteien die Wirkfaktoren in Konflikten zu erklären und meine Arbeitsweise zu erläutern. Wenn sie in dieser abstrakten und unverfänglichen Form gesehen haben, dass Kontexte Bedeutung haben, fällt es in der Konfliktbearbeitung später leichter, auf diese Erfahrung Bezug zu nehmen.

2 Kommentare zu “Kontext-Illusionen

  1. Corina

    Hallo Milan
    Ich wollte es nicht glauben, habe mir tatsächlich das Bild ausgedruckt und die Kreise übereinander gelegt. Unglaublich. Gibt es eine physikalische Erklärung dafür?

    Ich kann meinen Augen also nicht mehr trauen. Was mache ich denn jetzt damit? Muss ich an jeder Wahrnehmung zweifeln??

    Grrrr – es zieht mir gerade den Boden unter den Füssen weg.

    Herzlich,
 Corina

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    1. milan

      Hallo Corina

      Danke für Deine Rückmeldung. Die genaue physikalische Erklärung (Grundlagen der Optik?) kenne ich nicht, aber es ist eben der Kontext, der die Dinge unterschiedlich erscheinen lässt, d.h. mit was wir etwas unbewusst oder automatisch vergleichen. Wenn Du neben Deiner Tochter stehst erscheinst Du groß, wenn Du neben einem 2-Meter-großen Basketballer stehst, wirkst Du wahrscheinlich klein. Bist Du jetzt groß oder klein?!
      Darum ist es wahrscheinlich ratsam, vorsichtig zu sein mit Bewertungen, wenn wir keinen Kontext kennen oder benennen können.
      In diesem Sinne verstehe ich auch den Ausspruch von Sokrates „Ich weiß, dass ich nicht weiß.“ (Fälschlich wird oft zitiert, dass er sagte „… dass ich nichts weiß.“ Aber die Betonung liegt nicht auf dem ’nicht‘, sondern auf dem ‚Wissen‘. Er erkannte und erkennt an, dass alles, was er vielleicht zu wissen glaubt, letztlich nur Annahmen und Vermutungen sind.
      Ein bisschen Demut kann uns allen sicher nicht schaden.

      Liebe Grüße,
      milan

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