Das Modell Tit-for-Tat missverstehen viele Menschen als Rechtfertigung von Racheakten. Nichts liegt ferner. Warum es ein sehr konstruktives Modell ist, möchte ich hier an vier Gründen erläutern. Warum sollten wir in der Lage und bereit sein, Tit-for-Tat anzuwenden:
1.) Selbstfürsorge – die eigenen Grenzen wahren.
Als erwachsene, eigenverantwortliche Menschen ist es primär unsere Aufgabe, für unsere Integrität zu sorgen. Wird diese verletzt – durch Unachtsamkeit oder Mutwilligkeit anderer – dürfen und sollten wir dafür sorgen, dass die Grenzen wieder hergestellt und in Zukunft respektiert werden. Wir können nicht erwarten, dass andere unsere Grenzen respektieren, wenn wir selbst sie nicht respektieren, d.h. sie deutlich benennen, sie pflegen und wenn notwendig auch verteidigen.
Dieser Grund würde sich m.E. erübrigt, wenn ich mich nicht oder nicht mehr überwiegend als klar definiertes und begrenztes Wesen verstehe, d.h. mein Ego überwunden habe. Dann hat meine Persönlichkeit eine Qualität, die mit der des Wassers vergleichbar ist. In einen See kann man einen Stein hinein werfen, der See wird dadurch nicht verletzt. Er verteilt sich neu um den Stein herum.
Ob wir diese Qualität erreicht haben, merken wir z.B. dann sehr deutlich, wenn jemand in unser System eindringt: Fühlen wir uns verletzt, haben wir (noch) nicht das Wesen des Wassers. Nun so zu tun als wären wir nicht verletzt, ist unehrlich – uns selbst gegenüber und auch der anderen Person gegenüber. Sie bekommt ein falsches Feedback, wenn wir eine Handlung als (grenz-)verletzend erleben, es jedoch nicht mitteile. Wir können jedoch solche Gelegenheiten nutzen, um die Wasserqualität mehr und mehr zu entwickeln. In dem Fall wäre die Verletzung für mich kein Affront mehr, sondern eine Aufforderung zu Lernen. Und wir sagen „Danke!“.
2.) Pflege des Beziehungssystems
Wenn jemand unsere Grenzen verletzt, stellt dies in der Regel auch unsere gute Beziehung in Frage. Wir erwarten Respekt vor unseren Grenzen und wenn dieser nicht vorhanden ist, leidet die Beziehung. Wir merken das, wenn wir zwar nichts sagen, aber innerlich grollen. Groll zerstört Beziehungen. Indem wir also die andere Person auffordern, sich aus unserem Gebiet wieder zurück zu ziehen und in Zukunft die Grenzen zu respektieren, sorge ich für eine gute, konstruktive Beziehungsebene. Weigert sich die andere Person meine Grenzen anzuerkennen UND über die Angelegenheit zu reden oder zu verhandeln, sollte ich bereit und in der Lage sein, soviel Druck aufzubauen, um die andere Seite zu motivieren zu verhandeln. Dies tue ich nicht nur, um mein Territorium zu schützen, sondern auch um die gute Beziehung zu erhalten. Tue ich dies nicht und grolle und nähre meine Ressentiments, dann zerstöre ICH damit die Beziehung.
3.) Respekt und Fürsorge für die andere Person
Bei Grenzverletzungen gebe ich ein ehrliches Feedback, weil ich davon ausgehe, dass auch die andere Person grundsätzlich ein konstruktives Miteinander wünscht – zumindest ein gewisser Persönlichkeitsanteil von ihr. Dies entspricht meinem positiven Menschenbild. Dabei bin ich nicht naiv und denke ‚Alle Menschen sind gut!‘, sondern ich weiß um unser aller innerer Zerrissenheit: Wir haben sowohl die guten und konstruktiven Anteile in uns als auch die egoistischen und rücksichtslosen Anteile. Mit TfT erkenne ich die menschliche Komplexität und Ambiguität an und adressiere gleichzeitig beide Anteile: Ich sende einerseits eine klare Botschaft an den grenzverletzenden Persönlichkeitsanteil der anderen Person und sorge auch dafür, dass dieser in meinem Territorium keine Handlungsmacht ausübt. Ich begrenze die Ausbreitung der destruktiven Anteile – auch in der anderen Person.
Gleichzeitig fördere ich, begrüße ich und lade ich den konstruktiven Persönlichkeitsanteil der anderen Person ein, indem ich jederzeit aktiv meine andere Hand zur Kooperation reiche.
So wie es für uns sicher eine Herausforderung sein wird, immer und immer wieder zu verzeihen, sobald die andere Seite einlenkt (siebenmal siebzig mal!), ist es m.E. auch unsere Aufgabe, die andere Person nicht zu fortgesetzten Grenzverletzungen zu verführen, indem wir Fehlverhalten nicht deutlich benennen. Ich gehen zwar davon aus, dass die andere Person für ihr Handeln verantwortlich ist (Respekt vor der Eigenverantwortlichkeit), aber sie braucht auch unser deutliches Feedback, wenn sie Grenzen verletzt.
4.) Generelle politische Gründe
Ich möchte in einer Welt leben, in der die legitimen Grenzen anderer Menschen respektiert werden. Daher braucht es Modelle, für einen guten, Grenzen wahrenden Umgang miteinander. Unsere Welt ist voller Beispiele für Grenzüberschreitungen. Dabei müssen wir gar nicht so weit gehen, auf Angriffskriege zu schauen, obwohl sie gute Lehrbeispiele sind: Die Ausdehnung des römischen Reiches, die Kreuzzüge, deutsche Eroberungskriege oder die Invasionen der Supermächte (Sowjetunion/Russland: Prag 68, Tschetschenienkriege, Annexion der Krim und Überfall auf die Ukraine …; USA: Angefangen bei der Besiedelung des Kontinents, wo den Indigenen das Land genommen wurde bis zu den Luftangriffen gegen Libyen, Syrien oder die gezielten Tötungen durch Dronen in fremden Ländern.)
(Beispiele von invasiven gebietsfremden Arten (https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/biodiversitaet/dossiers/invasive-arten.html)
Auch Kinder testen ihre Grenzen aus – sie brauchen Klarheit, wenn sie lernen sollen, Grenzen zu respektieren.
Ich finde es z.B. bezeichnend, dass wir viele Sportarten haben (Handball, Fußball, Volleyball, Tennis …), in denen es darum geht, Grenzen zu verletzten, nämlich den Ball ins gegnerische(!) Tor zu bringen. Wir wäre es, wenn wir die Tore anders definieren würden: Ich spiele auf mein Tor und versuche, den Ball dort unterzubringen, die Gegner*innen versuchen mich daran zu hindern, den Ball „heim zu bringen“. Solch ein Spiel bekäme eine ganz andere Konnotation. Es könnte sogar immer noch aggressiv gespielt werden, aber es wäre nicht mehr invasiv, sondern von Selbstfürsorge geprägt.
Das Private ist politisch!
Ich halte es für bedeutsam, welche Modelle wir vorleben – unseren Kindern, unseren Freund*innen, unseren Kolleg*innen, und nicht zuletzt auch unseren Vorgesetzten gegenüber. Wir sollten zeigen, dass wir Grenzverletzungen nicht ok finden und dass wir aktiv dafür eintreten, dass bei strittigen Fragen (z.B. ob überhaupt eine Grenzverletzung vorliegt) fair auf Augenhöhe verhandelt wird. Und dass wir unsere Möglichkeiten nutzen, Menschen zu „motivieren“, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Zuerst mit einer freundlichen Einladung oder Bitte. Dann mit Nachdruck und ggf. auch unter Ankündigung von Konsequenzen, falls keine Bereitschaft zum Verhandelt gezeigt wird. Und dann die Umsetzung der Aktion, sofern die Androhung nicht ausreichte.
Dieses Prinzip, inclusive die Bereitschaft zur Eskalation, haben wir in den sozialen Bewegungen praktiziert. Wenn unser Anliegen nicht gehört wird, gehen wir auf die Straße und erzeugen öffentlichen Druck (siehe Fridays for Future). Reicht dies nicht aus, gehen wir in den Widerstand und kündigen schrittweise Kooperation auf (Schulstreik, Arbeitsniederlegung, Boykotte, …). Und sollte dies nicht immer noch nicht ausreichen, können wir den Druck noch erhöhen, indem wir unter Beweis stellen, dass wir die Interessen der Gegenseite stören können (Aktionen zivilen Ungehorsams, Straßenblockaden, Steuerverweigerung, Go-In, Last Generation …).
Wichtig: All dies tun wir, um faire Verhandlung auf Augenhöhe zu erreichen, nicht um unsere inhaltlichen Ziele durchzusetzen!
Siehe auch: Was ist das Modell Tit-for-Tat?