Aufmerksamkeitsfokussierung

Schauen wir auf den Kelch oder auf die beiden Gesichter? Ähnlich wie beim Kippbild der alten/jungen Frau hängt es von uns ab, was wir in diesem Bild sehen. Auch ob ein Glas halb voll oder halb leer ist, hängt davon ab, worauf wir schauen.

Eine Hauptaufgaben in vielen Mediationen besteht darin, einen destruktiven  Kommunikationsprozess in einen konstruktiven zu überführen. Dazu können wir den Mechanismus der Aufmerksamkeitsfokussierung nutzen. Lenken wir die Wahrnehmung auf das Problem oder  schauen wir die Ressourcen, die potentiellen Möglichkeiten und die Lösungen?

Praktische Anwendung(en) in der Mediation:

  • In der Einleitungsphase erklären wir den Konfliktparteien die Grundlagen unseres mediativen Ansatzes, z.B. auch das Prinzip der Mehrperspektivität, dass wir nicht von einer Wahrheit, sondern von mehreren Wirklichkeiten ausgehen?  Anstatt ihnen einen Kurzvortrag über Konstruktivismus zu halten, versuchen wir, ihnen das Prinzip erfahrbar machen, z.B. anhand von Kippbildern:Ich nutze dafür gern dieses Bild der alten/jungen Frau.

    Viele Menschen kennen dieses Bild bereits, daher geht das recht schnell. Kennen sie das Bild noch nicht, können sie einen Moment damit spielen und haben vielleicht ein kleines Aha-Erlebnis.Es bietet sich auch dieses Bild an:

Eine andere Möglichkeit ist, ihnen eine Geschichte zu erzählen, z.B. die Geschichte von Teufel & Engel oder von den Blinden, die den Elefanten betasten.

  • Wir können den Aufmerksamkeitsfokus bei den Konfliktparteien explizit steuern, machen dies aber oft auch implizit, indem wir bestimmte Fragen stellen, z.B. „Was schätzen Sie an Ihrem Gegenüber?“
    Zu Beginn der Mediation fragen wir die Parteien oft nach Ressourcen, mit denen wir in der Mediation arbeiten können. Wenn möglich, fragen wir dies „über Kreuz“, d.h. welche Stärken und Fähigkeiten die Parteien von einander kennen und von denen sie sich wünschen, dass die andere Partei dies in die Mediation einbringen mögen, damit der Prozess möglichst konstruktiv verlaufen kann. Auch wenn dieser Schritt den Parteien oft nicht leicht fällt, ist er doch für beide Seiten angenehm: Man sieht die andere Person nicht mehr nur mit ihren Schattenseiten, sondern wieder umfassender und es tut natürlich auch gut, die eigenen Qualitäten von der anderen Person gespiegelt zu bekommen.
    Hier kann man auch sehr schön mit Bildern arbeiten, die Stärken, Qualitäten und Fähigkeiten illustrieren.
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  • Auch um einigen Kognitiven Verzerrungen entgegen zu wirken, bietet sich die Steuerung des Aufmerksamkeitsfokus an, z.B. beim „Bestätigungfehler“ (confirmation bias):Angenommen, Parteien haben bzgl. der Zielsetzung eine hinderliche Überzeugung, wie z.B. „Mediation bringt doch nichts!“, dann haben wir mehrere Möglichkeiten, damit umzugehen:Wenn wir jetzt für die Mediation argumentieren („Vertrauen Sie uns, 75% der Mediationen sind erfolgreich!“), würden wir polarisieren und setzten damit unsere neutrale Haltung aufs Spiel.Wenn wir klassisch mediativ reagieren wollen, würden wir versuchen heraus zu finden, welche guten Gründe es für diese Skepsis gibt und diese zu verstehen.Wenn es uns jedoch darum geht, die Zuversicht zu stärken, können wir statt der üblichen „digitalen“ Ja-Nein-Aussage eine analoge Skalierung / Einschätzung abfragen: „Sie scheinen sehr skeptisch – wie groß ist denn Ihrer Meinung nach die Chance, dass die Mediation erfolgreich sein wird?“
    (Wir fragen bewusst nicht, wie groß die Gefahr für das Scheitern gesehen wird, sondern wir fragen nach der Erfolgswahrscheinlichkeit!)Wenn die Person die Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg mit lediglich 30-35% angibt und das Scheitern für wesentlich wahrscheinlicher hält, wird sie sich aufgrund des Bestätigungsfehlers wahrscheinlich mehr auf die Faktoren („Beweise“) fokussieren, die ihre Überzeugung stützen.
    Anstatt selbst für die Chance auf Erfolg zu argumentieren, lenken wir nun den Fokus der Aufmerksamkeit auf die eigene Einschätzung der KP von „nur“ 30% Erfolg: „Aha, Sie sind gar nicht bei 0% – was würde denn Ihrer Meinung nach(!) für die 30% sprechen? Auch wenn Sie einen Erfolg für nicht so wahrscheinlich halten, welche Faktoren gibt es Ihrer Meinung nach, die zum Erfolg beitragen könnten?“Benennt die Partei die positiven Faktoren der eigenen(!) Einschätzung, findet in diesem Moment eine Identifikation statt und dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass diese Faktoren dann auch im Prozess wahrgenommen werden und im günstigsten Fall sogar stärker gewichtet werden, als hinderliche Faktoren, die nicht explizit benannt wurden.Wollen wir dies noch verstärken, könnte man in der Zusammenfassung gegen Ende der Sitzung einige Beispiele aufzählen, die den von der KP genannten Faktoren entsprechen.(Wieder: Wir lenken den Aufmerksamkeitsfokus!)


Übungen zur Entwicklung der eigene Haltung / Psycho-Hygiene:

Wollen wir uns selbst mit dem Phänomen der Aufmerksamkeitsfokussierung vertrauter machen, gibt es mehrere Möglichkeiten, nicht nur im Rahmen von Mediationen:

  • Achtsamkeit – sich der eigenen Perspektiven immer wieder bewusst werden: Von welchem Standpunkt betrachte ich gerade diesen Sachverhalt? Welche Brille habe ich dabei auf? Durch welche Gewohnheiten, Gefühle, Bedürfnisse, Werte oder Absichten ist meine Sichtweise gerade beeinflusst?
    (Hier wird uns wahrscheinlich bewusst, wie sehr uns im Alltag unser Autopilot steuert.)
  • Die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel trainieren: Immer wieder fragen: Wie könnte man diese Angelegenheit jetzt noch anders sehen? Diese Perspektive für einen Moment ausprobieren: Wie fühlt sich das an? Was triggert es bei mir?
    (Die Macht des Autopiloten und der inneren Muster verringern.)
  • In den Supervisionen mit Mediator*innen erlebe ich immer wieder einen sehr selbstkritischen, defizit- und fehlerorientierten Blick. Selbstkritische Reflexion ist wertvoll, aber mindestens so wertvoll ist der Blick auf die Dinge, die uns gut gelungen sind, um dies für uns zu konsolidieren. Daher: Erster Punkt ist der Fokus auf die erfolgreichen Interventionen, dann werden wir uns mit einem anderen mentalen und emotionalen Status den Schwierigkeiten und Versäumnissen zuwenden können.
  • Mentale „Fingerübungen“ (so wie Pianist*innen täglich ihre Tonleitern üben): Mit Optischen Täuschungen spielen, mit Wahrnehmungs-Illusionen experimentieren; Beispiele finden sich viele in Büchern oder im Netz.
    Einfach mal Bilder zu „Optische Täuschungen“ im Netz suchen.

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Aktueller Hinweis:

Im März und Juni 2023 biete ich zwei Fortbildungen an zum Thema Neurowissen und Hypnosystemik in der Mediation.

Infos dazu auf der Seite Veranstaltungen

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