Die eine Wahrheit oder viele Wirklichkeiten ?

In der Schule lernen wir von klein auf das Paradigma von Richtig & Falsch. Es begleitet uns ein Leben lang. In der Mediation folgen wir einem anderen Paradigma: Wir suchen nicht nach der Wahrheit, sondern wir wollen unterschiedliche Wirklichkeiten verstehen und die Konfliktparteien unterstützen, sich diese Unterschiede gegenseitig verständlich zu machen. Dabei ist uns MediatorInnen die Annahme der Mehrperspektivität und dass wir Keine Realitäten wahrnehmen, sondern unsere subjektiven Wirklichkeiten konstruieren, eigentlich selbstverständlich.
Für die meisten Menschen ist dies jedoch immer noch sehr fremd und in Konflikten oft sogar eine Zumutung. Argumentativ stärken uns die Neurowissenschaften zum Glück den Rücken. Prof. Dr. Wolf Singer (ehemaliger Direktor der Abteilung für Neurophysiologie am MPI für Hirnforschung) betont auch aus neurophysiologischer Sicht, dass wir soziale Realitäten subjektiv konstruieren:
„… Menschen nehmen das Gleiche unterschiedlich wahr, und zwar als Primärwahrnehmung, die sie nicht relativieren können. Und es ist in solchen Fällen nicht möglich zu entscheiden, wer da nun Recht hat. Beide nehmen etwas wahr als legitim und primär. Es gibt in diesen Fällen keinen Schiedsrichter oder ein physikalisches Messinstrument, das sagen könnte, der eine hat mehr Recht als der andere. … Man muss denen, die abweichende Wahrnehmungen haben, zubilligen, dass sie genau so Recht haben.“ [1]
Um den Konfliktparteien das Paradigma der Mehrperspektivität und die Idee unterschiedlicher, aber gleichberechtigter Wirklichkeiten zu illustrieren, können wir die Begrifflichkeiten der Wirklichkeiten erster und zweiter Ordnung nutzen, die Paul Watzlawick 1978 in seinem Buch „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ differenziert hat.

Die meisten Menschen kennen die Metapher des halbgefüllten bzw. halbleeren Wasserglas. Das Glas hat 300 ml Fassungsvermögen und es sind 150 ml Flüssigkeit enthalten. Diese Behauptung könnten wir durch Nachmessen überprüfen, somit ist es eine Wirklichkeit 1. Ordnung.

Wirklichkeit 2. Ordnung“ nennen wir hingegen die subjektiven Bedeutungsgebungen, wo subjektive Interpretationen aufeinander prallen – „Das Glas ist halb voll. Das sieht man doch!“ „Nein, es ist halb leer. Hast du keine Augen im Kopf?“
Streit und Konflikte entbrennen sehr häufig um die Wirklichkeiten 2. Ordnung.

Und wie wäre es, wenn ich behaupten würde, das Glas ist sogar ganz voll?
Die meisten Menschen würde spontan sagen, dass dies ja nun wirklich nicht stimmt.
Aber ich kann es sogar physikalisch beweisen, dass das Glas ganz voll ist. Die Behauptung, dass das Glas nur halbvoll ist, beruht auf der – unausgesprochenen(!) – Annahme, dass wir beide über die Flüssigkeit reden. Ich hingegen meine, dass das Glas halb mit Flüssigkeit und halb mit Gas (Luft) gefüllt ist. Denn oberhalb der Flüssigkeit ist ja kein Vakuum. Und wir haben nie explizit vereinbart, dass wir nur die Flüssigkeit meinen. Aber selbst wenn wir beide die Flüssigkeiten meinen, könnte es passen: Wenn ein Whisky-Glas bis zum Eichstrich gefüllt ist, sagt man, es ist voll. Als Whisky-Glas wäre das Glas über ja schon übervoll.
Ich halte es für hilfreich, diese beiden Kategorien in der Mediation zu unterscheiden – in jedem Fall für mich, aber meist auch explizit für die Konfliktparteien. Dazu nutze ich gern das Beispiel und diese Bilder vom Wasserglas.
Konfliktparteien, die auf der Suche nach „der Wahrheit“ sind, sind manchmal irritiert, wenn wir beide Sichtweisen anerkennen, spiegeln und würdigen. Dann kann es hilfreich sein, auf die Metapher mit dem Wasserglas verweisen kann. Und im besten Fall haben wir dies vorab sogar schon erklärt und eine Einsicht in diese Kategorien hergestellt.

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[1] „Zur Organisation des Gehirns – Widersprüche zwischen Intuition und neuronaler Wirklichkeit“. Prof. Dr. Wolf Singer; MPI für Hirnforschung; Vortrag an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, 10. Februar 2010, Frankfurter Institute of Advanced Studies, Ernst Strüngmann Institut für Hirnforschung; DVD: www.auditorium-netzwerk.de.
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Aktueller Hinweis:

Im März und Juni 2023 biete ich zwei Fortbildungen an zum Thema Neurowissen und Hypnosystemik in der Mediation.

Infos dazu auf der Seite Veranstaltungen

 

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