Die Fragen lieb haben

Reiher
Manchmal ist in der Mediation die vereinbarte Zeit um, bevor alles geklärt werden konnte; manchmal fehlen uns wesentliche Informationen, ohne die wir bestimmte Inhalte nicht entscheiden können; und manchmal ist die Beziehungsebene noch nicht so weit wiederhergestellt, dass man sich den Sachfragen widmen kann. Es kann frustrierend sein – für die Konfliktparteien, aber auch für uns -, wenn wir die Dinge (noch) nicht zu einem guten Abschluss bringen könne. Was uns dann jedoch bleibt, ist, den Parteien Geduld und Zuversicht zu vermitteln, dass manche Dinge Zeit brauchen, und dass sie meist um so besser gedeihen, wenn wir der Entwicklung Raum geben.
In diesen Situationen lese ich ihnen manchmal den folgenden Text vor, den Rilke einst an einen jungen Dichter schrieb:

… und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr,
Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen
und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben
wie verschlossene Stuben und wie Bücher,
die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten,
die Ihnen nicht gegeben werden können,
weil Sie sie nicht leben könnten.
Und es handelt sich darum, alles zu leben.
Leben Sie jetzt die Fragen.
Vielleicht leben Sie dann allmählich,
ohne es zu merken,
eines fernen Tages in die Antwort hinein.

aus: Rilke: Brief an einen jungen Dichter

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1 Kommentare zu “Die Fragen lieb haben

  1. Gisela Krämer

    „Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein….“

    Ich liebe diese Zeilen von Rilke und es scheint manchmal, als habe Rilke damit vielen Menschen direkt ins Herz gesprochen. Geduld zu haben, Geduld zu erhalten und zu versuchen, Dinge und Bedeutungen nicht zu erzwingen, sondern mit ihnen zu wachsen, ist eine große Herausforderung in unserer Welt. Höher, schneller, weiter, eine durchaus gelebte Einstellung in der heutigen Zeit. Zu wachsen ist aber nur möglich, wenn Menschen nicht mit dem Konflikttrampolin in die Zukunft springen und ungeduldig nach Lösungen suchen, sondern nur, wenn das Gegenwärtige zugelassen wird. Menschen entwickeln sich wachsend, das finde ich das Beste an der Mediation, es hat immer Erkenntnis und meist Neuentscheidung zu Folge, also ganz im Sinne von Rilke. Wir wachsen in unsere eigene Wahrheit hinein – und darüber hinaus.

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